untreu (goldmann 2003)
Der
Tod hat das Menschliche hinter sich gelassen. Er ist unpersönlich,
ein Zustand, eine Phase, die nicht länger dauert als eine Viertelstunde.
Dann spätestens verschwindet der Tod und macht dem Leben Platz.
Lucilia und Calliphora finden als erste den Körper, der fünfzehn
Minuten lang leblos und nutzlos war und jetzt eine neue Funktion als frisches
Biotop hat. Lucilia oder Calliphora legen ihre cremefarbenen, mohnkorngroßen
Eier in Augenwinkel, Nasenlöcher, Mund und je nachdem
in Stichwunden oder Schusskanälen ab. Ihre Maden werden sich mit stummer,
blinder Gier durch das Gewebe arbeiten, Ameisen, Käfer und Schnecken
werden anschließend die Eiweißquelle finden und anzapfen. Solange,
bis Erde wieder zu Erde geworden ist.
Der Tod ist nun schon sehr weit weg.
So gesehen.
2
Es war
einer dieser Tage, an denen sich zum ersten Mal der Winter meldet. Der Himmel
sah aus wie weiß beschichtet, Gras und Bäume wie erstarrt. Kein
Windhauch. Du hast deinen kondensierenden Atem in die kalte Luft geblasen
und dann gelacht, und dir eine Zigarette angezündet. Wenn du rauchst,
hältst du die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger und nimmst
mit zusammengepreßten Lippen drei, vier tiefe Lungenzüge hintereinander.
Mit angewidertem Gesichtsausdruck, als sei Rauchen Medizin für dich
notwendig und unangenehm.
Danach hast du den Arm um mich gelegt und wieder gelacht. Ohne Grund, einfach
nur, weil wir zusammen waren und Zeit hatten. Du musst dich auch erinnern,
bitte. Es war der elfte Januar. 11. 01. 11 110111. Ich wende diese Kombination
im Kopf hin und her, auf der Suche nach seiner verstohlenen Bedeutung. Ein
Zahlenrätsel, ein Binärcode, der dazu dient, meine Festplatte
neu zu programmieren.
Ja-ja-ja-nein-nein-ja.
Was mich betrifft: ja.
Der elfte Oktober war ein Freitag. Wir haben uns getroffen, und du hast
mich auf diese Weise angeschaut, mit einem Blick, der gleichzeitig stark
und schwach, leidenschaftlich und ängstlich, selbstbewusst und demütig
ist. Am elften Oktober hast du mich zum ersten Mal gefragt, ob ich deine
Wohnung sehen will. Als wolltest du dich entschuldigen hast du gesagt: Ein
Loch, aber besser als Knast.
Ich schließe die Augen und habe das Timbre deiner Stimme im Ohr. Heiser,
sexy. Wenn ich allein bin, lege ich mich manchmal aufs Bett, lege die Hand
zwischen die Beine. Ich schwöre dir, ich kann kommen, nur indem ich
mir deine Stimme vorstelle, wie sie mich treibt und drängt...
Du hast mir deine Wohnung gezeigt. Sie befindet sich in einem riesigen Apartmentblock.
Pyramidenförmig, aus grauem Sichtbeton, mit Balkons, die aus der Ferne
aussehen wie Schießscharten. Magere Männer liefen an uns vorbei,
als wir zum Lift gingen, Jungs mit erloschenen Augen lungerten im Hausflur
herum. Sie starrten mich an, unverhohlen und gleichzeitig interesselos,
als bräuchte ihnen niemand zu erzählen, was jemand wie ich hier
zu suchen hatte. Der Lift war alt und eng, die Linol-Wände waren voller
trostlos schwarzer Graffitis in allen Sprachen der Welt. Es stank nach Rauch
und Pisse. Ich schaute nach oben und unvermutet mir selber in die Augen.
Vielleicht befand sich eine Kamera hinter der verspiegelten Decke
ein Gedanke, der mich erleichtert hat. Du weißt ja, ich bin ein Feigling,
auch wenn ich mich anders gebe (du weißt so viel von mir, dass es
mir manchmal unheimlich ist, und trotzdem bereue ich nicht, all das von
mir preisgegeben zu haben).
Für mich war es ein Abenteuer, vielleicht das erste Abenteuer meines
Lebens nein, das erste nach zu vielen Jahren. Ich war glücklich
und ängstlich. Für jemanden wie dich ist das schwer zu verstehen.
Du kennst nicht die Fantasien, die aus Langeweile und Mangel an Erfahrung
entstehen. Du hast Erfahrungen im Überfluss, mehr als dir lieb sind,
du brauchst dir nichts, gar nichts vorzustellen, es ist alles schon passiert
so oder schlimmer.
Du wohnst im achten Stock. Dein Appartement besteht aus einem Zimmer mit
Kochnische plus einem winzigen, fensterlosen , braungelb gekachelten Bad
mit der Dusche direkt neben der Toilette. Appartement 810 eine weitere
Chiffre meiner Sehnsucht. Der Teppich war vielleicht einmal himmelblau und
ist jetzt voller verblichener Flecken, deren Ursprung ich mir nicht vorstellen
mag. Dein Bett steht neben der Balkontür unter dem einzigen Fenster
und ist so schmal, dass wir kaum zu zweit darauf Platz haben. Die Matratze
ist steinhart. Das Zimmer dunkel und klamm, selbst wenn die Sonne scheint.
Der schwere Balkon davor raubt zusätzlich Licht. Nordlage, hast du
gesagt. Hier kommt nie ein Sonnenstrahl rein.
Ich konzentrierte meine Gefühle auf dich. Ich wollte alles andere ausblenden,
das Schäbige, Triste deiner Umgebung und auch deine Traurigkeit, die
du geschickt mit Humor und Dreistigkeit überspielst und die ich trotzdem
immer spüre. Ich möchte dich glücklicher machen. Manchmal
habe ich das Gefühl, dass es mir irgendwann gelingen könnte, dann
wieder sehe ich die Nutzlosigkeit meiner Bemühungen, die tiefe Verständnislosigkeit,
die sich wie eine Kluft zwischen uns auftut, selbst in intimsten Momenten.
Ich möchte so sein, wie du mich willst und brauchst. Das hast du einmal
so ähnlich zu mir gesagt, und genauso fühle ich. Zumindest in
dieser Hinsicht passen wir zusammen. Vielleicht ist das ein Anfang. Vielleicht
können wir darauf aufbauen eines Tages.
In deiner Wohnung ist es zum ersten Mal passiert. Anfangs weniger aus Lust
als aus Verlegenheit. Du wolltest mir etwas anbieten, aber du hattest nur
Bier und Wodka, und ich mag beides nicht. Deine Wohnung drohte alles zu
ersticken, was zwischen uns gewachsen war. Der erbärmliche Zustand,
die Unordnung eines alleinlebenden Mannes das bisschen Geschirr,
das du hattest, türmte sich in der Spüle, Schuhe und Socken lagen
auf dem Boden herum, der hässliche braune Kleiderschrank stand offen
alles drückte auf meine und deine Stimmung, aber ich war entschlossen,
es nicht zuzulassen.
Wir standen voreinander und sahen uns an. Schließlich entspannte sich
dein Gesicht, und ich konnte wieder in deinen Augen lesen, die im Halbdunkel
des Zimmers riesengroß, sehr jung und gleichzeitig uralt wirkten.
Acht Stockwerke unter uns, in einer anderen Welt, dröhnte der Spätnachmittagsverkehr,
fuhren erschöpfte Väter und Mütter zu ihren fordernden, aufreibenden
Familien. Du wolltest mich, du konntest es kaum erwarten, das war es, was
ich hoffte. Trotzdem habe ich gewartet. Es sollte sich natürlich entwickeln.
Ich wollte nichts erzwingen, nicht von dir, nicht von mir. Gleichzeitig
wusste ich, dass es jetzt passieren musste. Oder nie. Wir hatten diese eine
Chance.
Plötzlich hast du dich aufs Bett gesetzt. Es gab nichts, was du mir
anbieten konntest, also dachtest du, du müsstest dich selbst anbieten,
wie ein guter Gastgeber. Dieser Geistesblitz war wie eine Heimsuchung, er
drückte all meine bislang zurückgedrängten Befürchtungen
aus dass du mich eben nicht wirklich wolltest, dass du nur aus einer
obskuren männlichen Höflichkeit heraus so tatest, um meine Weiblichkeit
nicht zu brüskieren.
Ich setzte mich neben dich. Umfassende Ratlosigkeit und Schwäche. Es
gab nichts mehr, was ich tun konnte, alles lag in deiner Hand. Und in diesem
Moment hast du deine Sicherheit zurückgewonnen. Du hast ganz leise
gelacht (draußen fing einer an, in einer kehligen fremden Sprache,
vielleicht war es arabisch, herum zu schreien, ein anderer antwortete mit
schluchzender, sich überschlagender Stimme, zwei Türen knallten
nacheinander, Schritte kamen vorbei und entfernten sich), du hast mein Gesicht
in deine Hände genommen und ich spürte zum ersten Mal deine Lippen
(eine Frau unterhielt sich lautstark mit einer anderen, offenbar über
den Flur hinweg, beide lachten), deine Zunge fuhr über meine Zähne,
erkundeten meinen Mund.
Deine Lippen, deine Zunge waren warm, fest und weich. Sie gaben mir mein
Selbstvertrauen zurück. Ich war wieder jemand. In deinen Armen war
ich jemand, ein Körper, der existierte, eine Person, die jemandem etwas
bedeutete. Wir fanden unsere eigene Sprache, jenseits aller Missverständnisse.
Es war sensationell, deine Haut zu spüren, deine kräftigen Muskeln,
deine Rippen. Hart und mager. Gierig und sensibel. Ich hörte mein Stöhnen
und deinen schweren Atem, und es war wie eine machtvolle Musik, die alles
auslöschte, was außerhalb dem Universum unserer Körper existierte.
Es gab in diesen Momenten nichts mehr, das uns hätte auseinander bringen
können. Anfangs hast du immer wieder den Kopf gehoben, und mich forschend
angesehen, so als wolltest du dich vergewissern, dass alles richtig und
in Ordnung war, dass ich zufrieden war. Aber irgendwann waren deine Augen
so blind wie meine und da glaubte ich endlich, dass wir eine Chance hatten.
3
Das
geht nicht, sagte KK Marek Winter.
Er war sehr müde. Seine Hose kniff im Schritt, er wechselte unauffällig
seine Sitzposition. Das Kneifen war nicht schmerzhaft, nicht einmal besonders
unangenehm, aber es erinnerte ihn daran, dass er dabei war zuzunehmen. Ganz
allmählich, Jahr für Jahr, Pfund für Pfund. Er hatte es mit
einigen Diäten versucht, aber sie hatten nichts bewirkt. Marek wog
elf Kilo mehr als noch vor fünf Jahren. Er hatte einmal eine sportliche
Figur gehabt. Er war Bundesjugendmeister seines Jahrgangs gewesen, und verfügte
heute über einen Bauch, der auf unerklärliche Weise beständig
wuchs.
Das geht nicht, sagte er ein zweites Mal, diesmal mit leisem
Triumph in der Stimme. Die Frau, die vor ihm saß, war reichlich korpulent,
und schon deshalb konnte er sie nicht leiden.
Herr Kommissar...
Winter. Lassen Sie das Kommissar ruhig weg.
Herr .. äh ... Winter. Ich weiß nicht, an wen ich mich
sonst wenden soll. Sie sind doch hier die Vermisstenstelle. Wo soll ich
sonst hingehen?
Die Frau hatte sich mit Erika Weingarten vorgestellt und ihm gleich darauf
ihren Personalausweis entgegengestreckt wie einem Vampir das Kreuz, als
gäbe es die Möglichkeit, dass er an ihren Worten zweifelte. Als
sei ihm nicht egal, wie sie hieß und woher sie kam. Sie trug ein rostfarbenes
Kostüm, darunter blitzte der Kragen einer weißen Bluse hervor.
Die Kostümjacke mit den goldenen Knöpfen spannte vor Bauch und
Brüsten. Ob sie sich feingemacht hatte vor ihrem allerersten Besuch
bei der Polizei? Marek stellte sich unwillkürlich ihren Körper
vor, eine amorphe weiche Masse, notdürftig durch BH und Stützstrümpfe
in Form gehalten. Er sah sich selbst in ein paar Jahren schwammig
und fett.
Widerlich.
Mühsam riss er sich zusammen. Also Frau Weingarten. Sie sind
mit der mutmaßlich Verschwundenen nicht verwandt.
Nein.
Auch nicht verschwägert?
Nein.
Sie wohnen nicht mit ihr zusammen.
Nein!
Dann haben wir hier ein Problem. Marek faltete seine Hände
unter dem Kinn und beugte sich nach vorn, als wollte er ihr ein Geheimnis
verraten. Etwas in ihm genoss die Situation. Etwas in ihm hoffte, dass sie
sich tatsächlich als eine dieser Idiotinnen entpuppen würde, über
die man sich anschließend in der Kantine totlachen konnte. Die
Sache ist die, fuhr er fort. Sie...
Ich weiß, ich bin nicht mit ihr verwandt, unterbrach ihn
die Frau.
Richtig, sagte Winter, beifällig nickend, als sei sie eine
zwar minderbemittelte aber brave Schülerin, die sich immerhin bemühte,
ihr Bestes zu geben. Unter diesen Umständen können Sie die...
also die mutmaßlich Verschwundene eben nicht als vermisst melden.
Sie nicht. Das geht nicht. Für eine Vermissten-Anzeige muss man mit
dem Vermissten verwandt, verschwägert oder verheiratet sein. Oder wenigstens
in einem gemeinsamen Hausstand leben. Verstehen Sie, da könnte sonst
jeder kommen.
Wer soll denn da schon kommen? fragte die Frau zurück,
sichtbar verärgert. Sie verschränkte die Arme über ihrem
voluminösen Busen.
Einen Moment lang war Marek aus dem Konzept gebracht. (Es war ja so: Wenn
sie nicht verrückt war, hatte sie keinen Grund, sich in dieses Büro
zu bemühen. Verrückt sah sie aber eigentlich nicht aus.) Ach,
da gibts Sachen, das glauben Sie gar nicht.
Ja? Zum Beispiel?
Marek sah sie feindselig an. Verleumdungen eben. Einbildungen. Hirngespinste.
Wer sagt mir ich meine, ich will Ihnen gar nichts unterstellen, verstehen
Sie mich nicht falsch aber nur mal angenommen: Wer sagt mir, dass
Sie sich da nicht irgendwas zusammenreimen. Sie sitzen zu Hause, die Decke
fällt Ihnen auf den Kopf...
Ich will mit Ihrem Chef sprechen. Sofort. Die Stimme der Frau
war leiser als vorhin, ihr Gesicht leicht gerötet, ihr Blick gesenkt.
Erika Weingarten. Eine kleine, dicke, harmlos wirkende Frau, Anfang fünfzig,
wahrscheinlich ohne Kinder, die aus lauter Langeweile Gespenstergeschichten
ausbrütete, wenn sie daheim hinter ihren mit Bleichmittel behandelten
Gardinen hockte und versuchte, die Fenster der Nachbarhäuser mit ihren
Blicken zu durchdringen.
Dennoch fühlte sich Marek mit einem Schlag ernüchtert. Man wusste
eben nie. In sein Bewusstsein drang der Regen, der unermüdlich, schon
den ganzen Morgen lang, an das Bürofenster hinter seinem Rücken
schlug. Die Nachwirkungen eines Herbststurms der vergangenen Nacht, der
auf dem Land Bäume entwurzelt, Dächer abgedeckt und Strommasten
umgeworfen hatte. Der Wind hatte nachgelassen, der Regen nicht. Es war gerade
hell genug, dass man ohne Kunstlicht auskam. Marek seufzte. Sein Blick nahm
die tägliche, altbekannte Wanderung auf zwischen dem Aktenschrank aus
grauem Aluminium neben der Tür, dem überquellenden Regal an der
rechten Seitenwand und dem einzigen Foto auf seinem Schreibtisch, das seine
Tochter als wohlgenährten, vergnügten Säugling zeigte. Seine
Tochter, mittlerweile sieben Jahre alt, gehörte jetzt schon zu den
drei, vier dicksten Kindern ihrer Klasse. Mareks Augen hefteten sich auf
das Foto, wie schon so oft, und seine Laune trübte sich weiter ein.
Was wollen Sie jetzt machen? Mich einfach wieder heimschicken?
Marek seufzte ein zweites Mal. Seine Hoffnung, dass ihn ein Kollege mit
einem Besuch beehrte und ihn von diesem Gespräch erlöste oder
ihm wenigstens beistand, erfüllte sich nicht.
Kennen Sie jemanden, der verwandt oder verschwägert ist mit der
Verschwundenen?
Nein. Wir sind doch bloß Nachbarn!
Oder mit ihrem Mann? Der ist doch auch weg.
Nein. Wir sind Nachbarn und haben einen guten Kontakt. Ich weiß
nichts über der ihre Familienverhältnisse.
Es war elf Uhr vormittags, ein kalter, verregneter, langweiliger Herbsttag.
In der Kantine würde es heute Spaghetti Carbonara geben. Eine Portion
hatte mindestens tausend Kalorien. Dazu kamen die zwei Butterbrezen, die
er sich zum Frühstück genehmigt hatte. Mindestens siebenhundert
Kalorien. Tausendsiebenhundert Kalorien.
Also gut, hörte sich Marek zu seiner Überraschung
sagen. Wir schaun mal, was wir tun können.
Sie standen frierend vor dem niedrigen, schmiedeeisernen Gartentor: Marek
Winter, Erika Weingarten und ein Polizeiobermeister namens Bechtel, der
einen Schäferhund an der Leine hielt. Es regnete immer noch und der
Wind hatte wieder aufgefrischt. Die Tropfen fegten ihnen fast waagerecht
ins Gesicht. Marek hielt mit beiden Händen seinen wenig nutzbringenden
Schirm über sich und Erika Weingarten fest. Ich werde jetzt klingeln,
sagte er missmutig, als sei das eine Drohung. Der Wind schien ihm die Worte
vom Mund wegzureißen und sie irgendwohin zu tragen, wo sie niemand
hören konnte.
Erika Weingarten zuckte mit den Schultern. In ihrem grauen Mantel sah sie
noch unförmiger aus als vorhin in seinem Büro. Tun Sies
doch. Sie werden schon sehen, da ist kein Mensch.
Und Marek sah spürte zu seinem Ärger, dass sie recht
hatte. Das Haus nicht sehr groß, aber hübsch mit seiner
roten Backsteinfassade und den blendend weiß gestrichenen Fenster-
und Türrahmen wirkte tatsächlich auf undefinierbare Art
verwaist. Vielmehr: auf sehr konkrete Art. Schweres nasses Laub bedeckte
den größten Teil des Rasens, der so aussah, als sei er seit Monaten
nicht mehr gemäht worden. Unter dem Apfelbaum neben dem Gartentor lagen
an die fünfzig vor sich hin faulenden Früchte im langen Gras.
Im Moment lebte hier niemand, so viel war sicher.
Wo wohnen Sie? fragte Marek Frau Weingarten. Sie deutete mit
ihrem rundlichen Kinn nach rechts, auf eine dichte, korrekt geschnittene
Thujahecke, die den Blick auf das dahinterliegende Grundstück komplett
abschirmte.
Vielleicht sind sie ausgezogen, sagte Marek
Sind sie nicht.
Das können Sie ja gar nicht wissen.
Hab ich doch gesagt: Ich war im Garten. Mehrmals. Ich hab ins Wohnzimmer
geschaut. Die Möbel stehen da, wie immer. Die sind nicht mal mit Schutzplane
abgedeckt.
Haben Sie einen Zweitschlüssel?
Das ist ja das. Normalerweise haben mir die Belolaveks immer einen
Schlüssel gegeben, zum Blumengießen und Nachschauen und so. Aber
diesmal nicht.
Vielleicht waren Sie nicht da. Vielleicht hat jemand anders den Schlüssel.
Was ist zum Beispiel mit den Nachbarn da drüben?
Die Meyers, die Scherghubers, die Steins die hab ich alle schon
gefragt. Alle. Von denen weiß keiner was. Ich hab eine Tochter im
Alter von der Maria Belolavek. Die hat mir erzählt, dass die Maria
nicht in die Schule gekommen ist. Dabei sind die Sommerferien schon seit
zwei Wochen vorbei.
Das alles hatte sie ihm schon im Büro erzählt. Aber jetzt, wo
er vor diesem abweisend und fremd wirkenden Haus stand, erschien es ihm
viel überzeugender. Marek drückte auf dem Knopf unter dem Metallschild,
auf dem mit verschnörkelter Schreibschrift der Name Belolavek eingeritzt
war. Ein durch die Mauern gedämpfter, wohlklingender Glockenton war
zu hören. Erwartungsgemäß passierte nichts. Er drückte
ein zweites Mal, und ärgerte sich dann über sich selbst. Er hätte
das den Bechtel machen lassen sollen. Jetzt war er selbst der Depp, der
sinnlos an einer Tür klingelte, hinter der sich niemand befand.
Es gab einerseits keine legale Möglichkeit, sich auf dieses Grundstück
zu begeben. Niemand vermisste die Bewohner, außer einer Nachbarin.
Andererseits konnte Marek eine gewisse Neugier nicht verhehlen. Nun waren
sie schon mal hier. Man konnte ja zumindest einen kurzen Blick hineinwerfen.
Das war ja nicht direkt unbefugtes Eindringen in Privatgelände. Und
als hätte er diesen Gedanken laut geäußert, hatte Frau Weingarten
bereits über das Tor gelangt, und den elektrischen Öffner von
innen betätigt. Ein Surren ertönte, Frau Weingarten drückte
ihren schweren Unterleib gegen das Tor und schon marschierten sie im Gänsemarsch
auf den Terrakottaplatten am Haus vorbei Frau Weingarten als massige
Vorhut, dann Marek, dann Bechtel mit seinem mittlerweile tropfnassen Hund,
der sich eng an seine Beine drückte. Marek dachte noch kurz an seine
Straßenschuhe, die nach diesem Abstecher wahrscheinlich durchweicht
sein würden, aber dann sagte er sich, egal. Es war wenigstens eine
Unterbrechung seines durchaus nicht kurzweiligen Alltags.
Auf der anderen, der Straße abgewandten Seite wirkte der Garten noch
verwilderter und verlassener. Zwei abgebrochene, morsch aussehende Äste
lagen mitten auf dem Rasen wie Sinnbilder für Tod und Verfall. Die
angelegten Blumenbeete waren überwuchert mit Unkraut. Auf der überdachten
Terrasse waren zwei Stühle umgefallen, wahrscheinlich wegen des Sturms
in der vergangenen Nacht. Die Fliesen der Terrasse waren übersät
mit Blättern und Erde.
Karin hat ihren Garten geliebt, sagte Erika Weingarten. Manchmal
war sie ganze Nachmittage draußen, immer am jäten und gießen
und umgraben. Immer am räumen und gestalten. Der Garten war ihr Schmuckstück.
Und jetzt schauen Sie sich mal an, wie das hier aussieht!
Aber Marek hatte sich bereits dem Wohnzimmerfenster zugewandt. Die Rollos
waren oben, die Vorhänge aufgezogen. Auf dem Fensterbrett standen einige
Terrakotta-Töpfe mit offensichtlich vertrockneten Pflanzen. Der Raum
dahinter war quadratisch und spärlich möbliert aber eben
eindeutig möbliert. Man sah: Da fehlte nichts. Der Raum war komplett
eingerichtet, mit zwei Leinensofas, die über Eck standen, mit einem
Glastisch, mit Sesseln und Stühlen, mit Teppichen auf dem Parkettboden
und Bildern an den Wänden.
Sehen Sie die Staubschicht auf dem Boden und auf dem Tisch?
fragte Frau Weingarten. Ihr plumper Zeigefinger drückte energisch auf
die regennasse Scheibe. Marek sah im Halbdunkel des Raums nichts dergleichen.
Dennoch dachte er, da stimmt was nicht. Da stimmt gewaltig was nicht. Die
vertrockneten Pflanzen auf dem Fensterbrett. Der verwahrloste Garten. Die
schmutzige Terrasse mit den umgekippten Stühlen.
Die sind nie weggefahren, ohne einem von uns den Schlüssel zu
geben. Schon wegen den Blumen. Die Karin hat immer drauf bestanden, dass
hier regelmäßig jemand war, um zu gucken, ob alles in Ordnung
ist.
Hatten die Be... Be...
Belolaveks. Gar nicht so kompliziert wenn man sichs einmal gemerkt
hat.
...hatten die jemanden zum Putzen? Einen Gärtner, der regelmäßig
kam? Sowas in der Art?
Gärtner glaub ich nicht. Die Karin hat immer alles selbst
gemacht. Aber die Juliana kam regelmäßig, zweimal in der Woche.
Die Juliana kommt auch zu uns.
Die Putzfrau?
Ja. Die Juliana kommt aus Belgrad. Die putzt nicht nur, die bügelt
auch und kauft ein. Die bedient uns hier alle.
Und? Weiß diese Juliana was?
Nichts. Sie hat mir gesagt, der Thomas hat sie eines Tages angerufen
und abbestellt auf unbestimmte Zeit.
Thomas?
Belolavek. Karins Mann.
Der hat sie abbestellt.
Genau.
Macht sowas nicht normalerweise die Frau?
Erika Weingarten wandte sich ihm zu. Unter dem grünen Schirm wirkte
ihr dickes Gesicht beinahe kränklich. Genau das hab ich mir eben
auch gedacht, sagte sie mit bedeutungsvoller Stimme.
In diesem Moment schlug Bechtels Schäferhund an.
Was ist los? rief Marek und sah sich um.
Bechtel war nirgends zu sehen. Bechtel! Wo seid ihr?
Ein dumpfes Hier! war zu hören. Der Geräteschuppen,
sagte Erika Weingarten. Der ist wahrscheinlich im Geräteschuppen.
Ihre Augen glitzerten.
Wo ist der?
Da hinten. Hinter dem Busch da. Sie ging ihm eilig voraus, ihre
halbhohen Pumps patschten durch das matschige Gras, ihre fleischfarbenen
Nylonstrümpfe waren im Nu dunkel vor Nässe, was sie gar nicht
zu bemerken schien. Marek folgte ihr mit einem Gefühl im Magen, das
sich zwischen Übelkeit und Aufregung noch nicht entscheiden konnte.
Seine Füße waren mittlerweile so kalt und klamm, dass er sie
kaum noch spürte.
Der Hund hatte wieder aufgehört zu bellen, aber als sich Marek dem
Schuppen näherte, hörte er ihn scharren. Verdammt! Der hatte was
gefunden. Es war eine gute Idee gewesen, Bechtel mitzunehmen. Es war ein
Geistesblitz, beglückwünschte sich Marek im Stillen, eine astreine
Instinkthandlung. Er beschleunigte seine Schritte.
Da stimmte was nicht. Ganz gewaltig nicht.
Und er war dabei, es zu entdecken. Für einen Moment verdrängte
er das Problem mit dem unbefugten Betreten von Privatgelände, und allem,
was damit zusammen hing.
Der Schuppen aus dunkel gebeiztem Holz stand offen. Bechtel hatte den Hauptteil
der Geräte hinausgeworfen, wo sie nun im Regen lagen: eine große
und zwei kleine Schaufeln, eine zusammenklappbare Leiter, zwei Torfstecher,
Gartenhandschuhe, Gartenschere, vier alte Plastikliegestühle, einen
Eimer mit eingetrockneter Farbe. Der Hund machte sich im Inneren zu schaffen.
Bechtel! Spinnst du! Was machst du denn da?
Bechtel kam heraus, seine Hände, seine Uniform erdbeschmiert. Das
glaubst du nicht.
Was macht denn der Hund da?
Der hat die Leiche gleich gerochen.
Was?
Schau nur selber.
Der Hund kann hier nicht einfach... Wir haben keinen Durchsuchungsbeschluss,
nichts... Aber um die Wahrheit zu sagen: In diesem Moment war das
Marek egal. Er hatte eine Entdeckung gemacht, darauf kam es an. Sie mussten
sich später nur was einfallen lassen, wie sie die Sache rückblickend
so verkaufen konnten, dass sie legal wurde.
Er drängte sich an Erika Weingarten vorbei in den Schuppen. Der Boden
bestand aus schlecht befestigten Holzdielen. Zwei der Bretter hatte Bechtel
offenbar herausgebrochen und nach draußen geschafft. Sie lagen auf
dem nassen Rasen vor dem Schuppen und wirkten dunkel und vermodert. In der
Hütte, in der Lücke zwischen den verbliebenen Brettern sah Marek
einen einzelnen, halb skelettierten Finger aus dem weichen, feucht aussehenden
Erdreich ragen. Es war beinahe komisch. Ein einzelner warnender Finger.
Marek musste ein nervöses Lachen unterdrücken. Gleich darauf brach
ihm der Schweiß aus und er bekam eine Gänsehaut, dass es ihn
schüttelte.
Das ist doch nicht wahr, sagte er. Seine eigene Stimme hörte
sich fremd an in seinen Ohren.
Da wird einem ja schlecht, sagte Frau Weingarten in sein linkes
Ohr. Sie stand direkt hinter ihm, und Marek wusste nicht, was schlimmer
war: der tote weißlich-graue Finger mit den einzelnen Fleischfetzen
daran oder Frau Weingartens Körper, der sich so eng an ihn presste,
dass er jeden einzelnen ihrer Mantelknöpfe im Kreuz spürte.