wer schuld war (dtv 2010)

”Ihr Name?”
”Barbara Fleiss.” Der Polizist ist mollig und jung. Seine Kollegin ist einen Kopf größer und schreibt fleißig mit.
”Haben Sie Papiere?” fragt der Polizist. Er nimmt seine Mütze ab, streicht sich durch die kurzen blonden Haare und setzt sie wieder auf. Diese Bewegung macht er wahrscheinlich zwanzig bis dreißig Mal täglich ohne es zu merken. Sein Hemdkragen sieht feucht aus.
”In der Handtasche. Die ist weg.”
”Warum haben Sie das Auto eigentlich ausgerechnet hier abgestellt?”
”Hallo? Wir sind doch nicht in der Bronx!”
”Die Gegend ist einsam. Kaum Wohnhäuser, fast nur Gewerbe. Am Wochenende ist wenig los. Das zieht potenzielle Täter natürlich an.”
”Der Asphalt ist gut. Ganz neu, sehr fein, schön glatt, keine Risse. Der beste Asphalt der Stadt.” Sie ist vollkommen durchgeschwitzt. Ihre Haare kleben am Kopf, außerdem könnte es sein, dass zerlaufene Wimperntusche schwarze Ränder unter den Augen geparkt hat.
”Aha”, sagt der Polizist und sieht sie jetzt durchdringend an, als sei sie drauf und dran etwas zu gestehen. Sie zeigt mit dem Kopf in die Richtung des Mannes, mit dem sie seit acht Jahren zusammen ist und seit fünf Jahren zusammenlebt. Er hat sich an einen Baum gelehnt, sieht irgendwohin und tut so, als ginge ihn das alles nichts an. Als ginge sie ihn nichts an. Der Polizist folgt gehorsam ihrem Blick. 
”Außerdem müssen Sie das ihn fragen”, sagt sie. ”Er wollte hier parken.”
”Verstehe.”
”Er wollte unbedingt hier parken. Und ich habe jetzt ein aufgebrochenes Auto.” Sie hebt ihre Stimme, aber er reagiert nicht. Der Polizist macht ein Gesicht, als sei ihm das peinlich. ”Würden Sie hier unterschreiben?”, fragt er. ”Und da?”
Sie unterschreibt in ihrer Krakelschrift, die kein Mensch lesen kann, nicht einmal sie selbst. ”Gibt es eine Chance, die Sachen zurückzubekommen?”
”Also...” Das hört sich nicht gut an.
”Anfänger erwischt man leichter. Vielleicht waren es Anfänger. Es sieht nicht sehr professionell aus.”
” Wird die Versicherung zahlen? Wenigstens für das eingeschlagene Fenster?”
”Das müssen Sie mit Ihrer Versicherung klären.”
”Aber Sie haben doch bestimmt Erfahrung mit solchen Sachen.”
”Da mische ich mich nicht ein.”
 

 

Der Friedhof ist sonnendurchflutet, ein warmer Herbsttag, und Barbara schwitzt in ihrem schwarzen Donna-Karan-Kleid, das seit mindestens fünf Jahren mehr oder weniger ungetragen in ihrem Schrank hängt, weil sie darin immer entweder geschwitzt oder gefroren hat. Es liegt an dem Stretchstoff, der zu dick ist, während der Ausschnitt anderseits zu tief ist, was Barbara beim Kauf gar nicht einsehen wollte, obwohl ihr Manuel das gleich gesagt hatte. Barbara verlagert ihr Gewicht von links auf rechts, ihre Absätze bohren sich in den frisch geharkten Kies, und durch die dünnen Sohlen spürt sie die scharfen Steinchen wie eine Fußmassage, und sonst leider nichts, gar nichts, keine Trauer, keine Verzweiflung, nichts, außer einem unangenehm nagenden Gefühl im Magen. Etwa zwanzig Gäste stehen in einem lockeren Halbkreis um das offene Grab. Neben ihr weint Gina, was Barbara stört, weil sie Paul viel länger kannte als Gina und trotzdem ausgerechnet jetzt nicht weint, obwohl sie ja nun wirklich Übung darin hat. Sie legt den Arm um Gina und drückt sie leicht an sich. Ginas Blazer fühlt sich sonnenwarm an. Sie riecht nach Shampoo und Schweiß.
Eine Windstoß fährt durch die hohen Kastanien, als der Sarg langsam und mit scheuerndem Geräusch in die Grube gelassen wird und Barbara endlich begreift, dass sie Paul nie wiedersehen wird, dass es Paul einfach nicht mehr gibt, und dass man das nicht verstehen kann, und dabei läuft es ihr kalt den Rücken herunter, denn das ist er jetzt, der endgültige Abschied, der nicht hätte sein müssen, wenn alles anders gelaufen wäre.
Mit Paul hatte sie ein Techtelmechtel in der Abiturklasse und später immer wieder kurze Affären, meistens zwischen zwei Beziehungen, oft wenn sie sich schlecht gefühlt hat oder in einer Alles-egal-Stimmung war: In solchen Fällen hat sie sich gern an Paul gewandt, der sie zuverlässig zum Reden, zum Lachen oder ins Bett gebracht hat, mit ihr ins Kino gegangen ist und auf jede Party, auf die sie nicht ohne Mann gehen wollte. Und nun ist sie ganz allein mit sich, und das vielleicht für den Rest ihres Lebens, wer weiß das schon, und zu ihrem Ärger spürt sie nun doch die Tränen kommen, diesmal fließen sie aber nicht von selbst, im Gegenteil, diesmal sind sie schwer wie Sirup und würgen sie im Hals.
Sie spürt Ginas Hand auf ihrem Rücken. Aus der leichtes Berührung wird allmählich ein Tätscheln, aber das Schluchzen kommt ganz tief aus dem Bauch und es lässt sich nicht stoppen.

 

Später im Lokal setzt sich Barbara neben Alex, lächelt Gina zu, die ihr schräg gegenüber sitzt, zwischen zwei Jungs aus Pauls ehemaliger Band, die es vor einem guten Jahrzehnt zu kurzem lokalem Ruhm gebracht und sich anschließend total zerstritten haben, und registriert, dass vor Gina ein bereits halbleeres  Glas steht, mit eine klaren Flüssigkeit, die wahrscheinlich nur aussieht wie Wasser. 
”Geht’s dir gut?” fragte Alex von der Seite, und sie nimmt ihren Blick von Gina, denn Gina muss selbst wissen, was für sie gut ist
”Ja. Danke.”
”Du siehst ziemlich blass aus.”
”Es geht schon. Bei mir ist im Moment eine Menge los.” Oder gar nichts, je nachdem, wie man die Dinge betrachtet. Nur klingt ”gar nichts” natürlich viel deprimierender als ”eine Menge”, weshalb sich Barbara zu letzterer Sprachregelung entschlossen  hat, aber als Alex den Arm um sie legt und fragt, was denn nun wirklich schiefgegangen ist, hätte sie am liebsten wieder mal geweint. Stattdessen sagt sie ”Ich weiß nicht genau”, und merkt im selben Moment, dass das nicht nur stimmt, sondern dass sie es auch plötzlich satt hat, über dieses Thema zu reden.
”Es hat eben nicht geklappt”, sagt sie jetzt, und überlegt, ob diese Äußerung nun das endgültige Aus markiert, ob sie es damit hergeredet hat.
”Noch seid ihr ja nicht getrennt.” sagt Alex. ”Jedenfalls nicht richtig.”
”Er hat sich seit fünf Tagen nicht gemeldet. Ich habe keine Ahnung, wo er gerade ist und was er macht. Der Job in Qatar war die Gelegenheit, alles hinter sich zu lassen, ohne das böse Wort in den Mund nehmen zu müssen. Ein Geschenk des Himmels. Er ist bestimmt heilfroh.” Sie hört ihre eigenen Worte – sachlich und klar heben sie sich vom dumpfen Stimmengewirr der anderen ab – und natürlich glaubt sie trotzdem nichts davon, erwartet immer noch Widerspruch, irgendein Zeichen, dass alles gut gehen wird, auch wenn es gerade nicht so aussieht, und Alex ist so freundlich, ihr das Gewünschte zu liefern, sagte ”Das ist ja gar nicht wahr”, und nimmt sogar ihre Hand, was sie nicht nur zu schätzen weiß, sondern beinahe rührend findet, weil er normalerweise so nicht ist. Nicht so körperlich.
”Als Architekt hatte er hier keine Perspektive”, fährt er mit sanfter Stimme fort, Balsam in ihre Ohren zu träufeln, ”das hast du selbst gesagt.”
”Du bist ein guter Freund”, sagt Barbara und meint es auch. ”Was würde ich jetzt ohne dich machen?”
”Ach was. Ich sage nur die Wahrheit.”
”Das ist nett.”
”Was ist daran nett?”
”Man hat das Gefühl, man könnte dir alles erzählen. Geht das eigentlich allen Leuten so mit dir?”
”Ich weiß nicht.”
”Ich kenne dich schon so lange, aber manchmal habe ich das Gefühl, ich weiß viel weniger über dich als du über mich.” Barbaras Stimme bekommt einen flirtigen Unterton, wie immer wenn sie mit Alex zusammen ist, das ist ein Spiel zwischen ihnen, ein kleiner, müheloser Dialog, der nie abreißt und in dem niemand jemandem etwas vormachen muss.
”Das kommt dir nur so vor”, sagt Alex und hält noch immer ihre Hand, die ihm Barbara nun so beiläufig wie möglich entzieht.
”Du wunderst dich über gar nichts, stimmt’s?”
”Nein. Alles ist möglich.”
”Es hätte nicht Qatar sein müssen. Qatar ist am Ende der Welt.”
”Nicht einmal sechs Flugstunden. Das ist doch kein Problem.”
”Du Optimist.”
”Ich übe noch.” Alex lächelt, Barbara lächelt zurück, fragt: ”Und du, Alex, hast du Pauls Geist gesehen?”
”Nicht direkt seinen Geist, eine Verschiebung der Luft, wie über heißem Asphalt. Ich denke, er ist glücklich da, wo er jetzt ist.”
”Hör auf.”
”Du wolltest es doch wissen.”
”Ich wollte einen Witz machen. Weil alles so traurig ist.”
”Wovor hast du eigentlich soviel Angst?”
”Meine Ängste sind ein abendfüllendes Thema.”
”Schau mal, da ist schon wieder dieser Mensch von der Polizei.”
”Polizei? Wieso Polizei?”
Alex wendet sich ihr jetzt ganz zu, sichtlich erfreut, dass er offenbar etwas weißt, das sie nicht weiß, und mit jenem Glitzern in den Augen, das meistens einer guten Geschichte vorausgeht, sagt er: ”Hat dir das noch keiner erzählt? Paul ist umgebracht worden.”
”Wie bitte?” Irgendetwas Schwarzes scheint in ihr aufzusteigen, sie ganz auszufüllen, selbst den Raum um sie herum zu verdunkeln..
”War er denn noch nicht bei dir?” hört sie Alex Stimme von sehr weit weg.
”Wer?” fragt sie, versucht, den Schwindel abzuschütteln.
”Dieser Mann von der Polizei. Der Blonde an der Bar.”
”Nein. Wer ist das?”
”Er war bei mir. Gestern.”
”Wieso?”
”Sie haben Pauls Leiche obduziert. Deswegen ist die Beerdigung verschoben worden. Und jetzt ermitteln sie.”
”Wieso erfahre ich das erst jetzt?”
”Ich dachte eben, du wüsstest es schon.”
”Warum hast du nicht angerufen?”
”Ich habe angerufen. Gestern. Du hast nicht zurückgerufen und dein Handy war aus.”
Tatsächlich sammeln sich auf ihrem Anrufbeantworter eine Reihe von Nachrichten, und darunter ist auch eine von Alex, wie sie sich jetzt dunkel zu erinnern glaubt, aber das ist nicht mehr herauszufinden, denn sie hat gestern abend alle gelöscht, weil keine von Manuel darunter gewesen ist.
”Erzähl’s mir jetzt”, sagt sie.

 

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