innere sicherheit (piper 2006)


Die Wahrheit von damals, die die Welt von heute formte, ist ein tiefer dunkler Strom voller Untiefen und gefährlicher Strudel und wir bauen uns wacklige Brücken darüber, tasten uns von Insel zu Insel auf der Suche nach Erkenntnis. Geschichten sind der Kitt unserer fragmentarischen Erinnerung. Und so hat es dieses verschwundene Land niemals gegeben, sind die beschriebenen Orte und Menschen, reine Erfindung, ist nichts davon je passiert. Oder nicht so passiert.

Oder?

prolog

Die Möwe schoss steil in den blau-weißen Himmel, tarierte mit zitternden Flügelspitzen die heftigen Böen aus und ließ sich mit dem Schnabel voraus wie ein Stein herunterfallen. Segelte dann mit königlicher Eleganz dicht über den üppigen Schaumkronen und tiefen Wellentälern, drehte wieder ab und beschrieb einen weiten Bogen über ihr Revier, sich scheinbar planlos vom Wind treiben lassend, in Wirklichkeit auf der dringlichen Suche nach Futter die glitzernde Wasseroberfläche fixierend, als sie in der Ferne ein dunkles, lang gezogenes Ding entdeckte. Mit einem gelben Flecken darin. Die Möwe hatte keinen Namen für das Ding, erkannte es auf ihre Weise aber trotzdem, nämlich als nicht zum Meer gehörig, jedenfalls nicht jetzt. Die ersten düsteren Wolkenschatten huschten über die Wellen, als die Möwe mit aller gebotenen Vorsicht auf den Fremdkörper zuhielt, und dann höher stieg, um den Schauplatz aus sicherer Entfernung zu beobachten.

Ein kleines, schmales Boot, für windstille Buchten und schönes Wetter geschaffen, aber nicht für schwere See. Darin saß ein Mensch, dick eingepackt in nass glänzendes Ölzeug, der sich die Seele aus dem Leib ruderte. Die Möwe flog ein wenig tiefer und äugte nach über Bord gegangenen Abfällen, während das Gefährt sieben, acht Meter unter ihr schwankte und schlingerte, die Ruderblätter die Wasseroberfläche entweder komplett verfehlten oder im falschen Winkel auf sie eindroschen. Aus ihrer Perspektive hätte die Möwe erkennen können, dass sich das Boot kaum vorwärts bewegte, eher von den Wellen zurückgetrieben wurde, wenn sie es denn interessiert hätte, was selbstverständlich nicht der Fall war. Nachdem es auch hier nichts essbares zu holen gab, wollte sie gerade abdrehen, als ein vibrierendes, abgehacktes Brummen ihre Aufmerksamkeit erregte. Die Möwe wandte im Flug den Kopf, eine kleine, ruckartige Bewegung, während der aufkommende Nieselregen an ihrem Federkleid abperlte. Unter ihr schoss ein lärmendes Motorboot über das aufgewühlte Meer, und sofort ließ sie sich, zu hundert Prozent unbestechliche Zeugin der Ereignisse, aber ohne jeden Nutzen für welchen Ermittler auch immer, weit nach oben tragen, in den jetzt einheitlich grauen Himmel, aus dem die ersten schweren Tropfen fielen.

Am Steuer des Motorboots stand ein Mann in dunkler Kleidung. Die Möwe hörte das hysterische Geräusch des überdrehenden Motors, das Klatschen des Rumpfs auf die aufgewühlte Wasserfläche und nahm, instinktiv alarmiert, einen neuen Kurs, weshalb sie nicht mehr sehen konnte, wie der Mensch im Holzboot seine Anstrengungen verdoppelte, um seinem Verfolger zu entkommen. Sie vernahm nur einen peitschenden Knall, der ein ihr unbekanntes und so starkes Angstgefühl auslöste, dass sie beinahe aus dem Takt geriet und deshalb ihre Geschwindigkeit beschleunigte, auf der Flucht vor einer uralten Erinnerung an Tod und Gefahr.

Währenddessen sank der Mensch im Ölzeug in sich zusammen, aus einer Wunde am Hinterkopf trat eine Menge hellrotes Blut und befleckte die gelbe Kapuze, und ein paar Sekunden später war das Boot leer und alles vorbei. Das Motorboot beschrieb sofort einen engen Bogen, kam mit abgewürgter Maschine heftig schwankend zum Stehen, woraufhin der Steuermann eilig versuchte, den leblos im Wasser treibenden Körper über die Reling zu ziehen, während der Wind immer stärker wurde, die Regentropfen waagerecht über die Wellen fegte, und irgendwann sich Luft und Meer zu einer diffusen, undurchdringlichen Nebelwand verbanden.

Nach einer halben Stunde vergeblichen Mühen gab der Mann die Sache auf. Überließ den Körper, lebendig oder nicht, seinem Schicksal. Der Motor heulte ein letztes Mal sein hektisches Klagelied und der Propeller am Heck ließ weiße Gischt nach allen Seiten spritzen, als der Mann wendete und trotz des gefährlich starken Seegangs Vollgas gab. Das Boot sprang über die Wellenkämme, es bockte und schlingerte, aber es blieb auf Kurs Richtung Westen. Etwas später entdeckte die Möwe, die zufällig in der selben Richtung unterwegs war, das Boot zum letzten Mal.

Gleichgültig sah sie herunter. Sie hatte alles vergessen. Es war nicht mehr wichtig.

 

1

Auf den ersten Blick sah die Leiche aus wie eine gestrandete Robbe, auf den zweiten wie eine überdimensionierte Puppe mit schlackernden, verdrehten Gliedernt. Die Brandung spielte mit ihr, schleifte sie zurück in die See, saugte sie an, hob sie hoch, und schob sie dann wieder mit gefühlloser Wucht auf den dunklen, mit Algen bedeckten Sand. Ein kalter, stürmischer November-Sonntag ging langsam zu Ende, mit schlechter Sicht und ohne jeden Anlass zu verschärfter Aufmerksamkeit, und das wiederum war der Grund, weshalb die tote Frau nicht einmal von den beiden Wachtürmen aus entdeckt wurde, die den Strand im Abstand von ein paar hundert Metern flankierten und sich wie schlanke Schattenrisse vom düsteren Himmel abhoben.

Vielleicht wäre das noch einige Stunden so gegangen, vielleicht wäre sie im Scheinwerferlicht der Wachtürme irgendwann doch einem der Karten spielenden NVA-Soldaten aufgefallen und dann ebenfalls auf Nimmerwiedersehen verschwunden: Wenn Mirko Jacek zu Hause geblieben wäre, und in aller Ruhe mit Frau und Sohn Kaffee getrunken hätte, statt herumzubrüllen und sich unmöglich aufzuführen.

Mirko Jacek hatte am Vorabend mit einer Menge Schnaps seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert, ihm war schwindlig und übel, und sein Kopf fühlte sich prall und schwer an wie eine überreife Melone. Er hatte sich am frühen Nachmittag mit seiner Frau gestritten und am späteren Nachmittag seinen zehnjährigen Sohn geohrfeigt und es waren anschließend noch ein paar Dinge mehr passiert, an die er sich nicht mehr gern erinnerte, die sich aber auch nicht komplett aus dem Gedächtnis löschen ließen: Es blieb ein ungutes Gefühl, auf ganzer Linie versagt zu haben, und was er immerhin sicher wusste, war, dass er seine Gummistiefel und seine Regenhaut übergeworfen und die Tür hinter sich hatte zufallen lassen, während ihm das Weinen und Schimpfen seiner Frau noch in den Ohren klang. Dann war er Richtung Strand marschiert, vorbei an einem der Wachtürme in Richtung des militärischen Sperrgebiets.

Das aufgewühlte Meer entsprach zu hundert Prozent Mirkos Stimmung und das gefiel ihm ganz gut; er fühlte sich regelrecht verstanden von den Elementen, wenn schon sonst keiner, nicht einmal er selbst, kapierte, was mit ihm los war und warum sich jeder neue Tag als neue Bürde erwies, indem er einmal mehr alles in Frage stellte, was Mirko noch vor Jahren selbstverständlich hingenommen hatte. Salz brannte auf seinen Wangen als er sich gegen den Wind stemmte, der direkt von der See kam, kalter Ostwind, der im kommenden Winter das Meer vielleicht gefrieren lassen würde und melancholisch erinnerte er sich an den letzten heißen Sommer, als das Wasser so sanft und glatt wie selten gewesen war, und er das Mädchen aus der Hauptstadt kennengelernt hatte.

Mirko rülpste und verscheuchte den Gedanken; das Mädchen war ein wesentlicher Bestandteil seiner Probleme mit Frau und Sohn, so sah die Wahrheit aus, die Art von Wahrheit, der sich kein Mann gerne stellte. Er postierte sich mit dem Rücken zum Wind und zündete sich mit dem neuen Zippo-Feuerzeug eine Zigarette an. Es funktionierte perfekt. Ein Lächeln zog über sein Gesicht: immerhin, dachte er, das ist doch was, und so führte ihn ein Zippo aus dem Intershop – das Geburtstagsgeschenk seiner Frau – verspätet zu der Einsicht, dass er sich über seine Ehe ja eigentlich nicht beschweren konnte, ein gutes Gefühl, selbst wenn diese Erkenntnis, und auch das war ihm klar, nichts bessern würde, sondern im Gegenteil eigentlich nur dazu führte, sich noch schlechter fühlte und in der Folge seine Frau noch übler behandeln würde.

Ein paar tiefe Lungenzüge später sah er die Tote in der Brandung. Er stockte mitten im Schritt, eine Bö fegte ihm die Kapuze vom Kopf und riss ihm die Haare zurück, ohne dass er es merkte. Die Luft war kalt und schwer von Feuchtigkeit, die Zigarette ging aus und er warf sie nach einem letzten vergeblichen Zug achtlos weg. Die Zeit schien mit einem Ruck stehengeblieben zu sein, und Mirko verharrte regungslos, als wäre jede Bewegung eine Entscheidung, die er auf keinen Fall treffen wollte, dabei war keine Entscheidung ja auch eine Entscheidung, Liebe oder Tod, man kam aus der Sache einfach nicht heraus ohne sich die Finger schmutzig zu machen, und natürlich wusste er sofort, worum es sich diesmal handelte: den Tod.

Seine erste Wasserleiche. Er hatte noch nie eine gesehen, obwohl er sein ganzes Leben auf der Insel verbracht hatte. Er kannte den Anblick angeschwemmter Ertrunkener lediglich aus den genüsslich ausgeschmückten Erzählungen sadistischer Zeitgenossen.

Die Zeit lief knirschend wieder an, der Körper der Frau tauchte kurz auf, verschwand in der weiß schäumenden Gischt, tauchte wieder auf. Das Meer schob und zog sie achtlos herum, wie ein Stück Holz. Tot ist tot, schien ihm das Meer damit sagen zu wollen, ist doch scheißegal, was dann mit dir passiert, und Mirko zögerte immer noch, ihm war natürlich nicht nach noch mehr Schwierigkeiten zumute, als er schon hatte. Und so warf er einen Blick auf die Wachtürme, wo sich nichts regte, aber das hieß nicht, dass er nicht beobachtet wurde, und so fragte er sich, ob das vielleicht eine Art Prüfung war, ob er seinen staatsbürgerlichen Pflichten korrekt nachkam, und das erschien ihm plötzlich so wahrscheinlich, dass er einen Schritt nach vorn machte, dann noch einen und noch einen, und schließlich, ohne genau zu wissen wie, bei der Toten angelangt war.

Sie war offensichtlich schon mehrere Tage im Wasser, Kleiderreste hingen in dunklen Fetzen an ihrem aufgeblähten Leib. Eine Frau, soviel konnte man gerade noch sehen, und auch, dass die Finger bis auf die weißlich schimmernden Knochen abgefressen waren, wahrscheinlich von Fischen oder vielleicht waren es auch die Möwen gewesen, die plötzlich kreischend um ihn herum flogen, während Mirko sich fragte, ob sie vorher schon dagewesen waren, und wenn ja, warum sie ihm dann nicht schon aufgefallen waren, bevor er die Leiche entdeckte.

Andererseits, war das jetzt nicht vollkommen egal? Jetzt waren sie jedenfalls überall, schossen über seinen Kopf und dicht an seinen Ohren vorbei und ihr klagendes weeow, weeow übertönte sogar das Rauschen und Pfeifen von Wellen und Wind.

Mirko überwand seinen Ekel und seine Übelkeit, begab sich knietief in die Brandung und versuchte, den schweren, glitschigen Körper so zu fassen zu kriegen, dass er ihn aus dem Wasser bekam. Das war nicht nur verdammt anstrengend, er wurde auch von oben bis unten nass als ihn eine eisige Welle frontal erwischte, als er sich gerade bückte, aber schließlich fasste er doch einen Knöchel, dann den zweiten, und keuchend und hustend zog er die Frau rückwärts aus dem Wasser, vor seinen Augen ihr schwammig weißes, mit blauen Adern durchzogenes Hinterteil. Die Haut fühlte sich kalt und gummiartig an – er dachte lieber nicht darüber nach, wie genau. Seine Füße versanken im Schlick, aber was er anfing, brachte er auch zu Ende.

Wenigstens das.

Nach endlosen Sekunden hatte er es geschafft. Die Tote lag nun bäuchlings auf dem feuchten, harten Sand, Wasserzungen umspielten ihren Hinterkopf mit den schulterlangen dunklen Haaren, die sich wie Schlangen auf dem Boden wanden und lebendiger aussahen als der Körper. Die Reste eines dicken, schmutzig-braunen Wollpullovers bedeckten notdürftig Brüste und den oberen Teil des Rückens, und sie trug eine Hose aus unbestimmbarem Material, die ebenfalls fast nur noch aus Fetzen bestand. Eine seltsam kranke Neugier besiegte für einen Moment den Ekel, und Mirko drehte ihren Kopf zur Seite, hatte ihr Gesicht mit der weißen kalten Haut im Profil vor sich, und stellte bei dieser Gelegenheit fest, dass sie keine Augen mehr hatte. Er zog scharf die Luft ein, und sprang zurück.

Keine alte Frau aber auch nicht jung, das war alles, was er gesehen hatte, und nun wollte er auch nicht mehr wissen, ob er sie kannte, sondern ihren Anblick vergessen, und zwar so schnell wie möglich. Wieder sah er zu den stummen Wachtürmen hoch, Mahnmale aus dunklem Beton, und dachte, dass der Staat mehr nun wirklich nicht von ihm verlangen konnte, noch dazu kam von dort oben keine Hilfe, keine Sirene, kein Signal, dass man ihn gesehen hatte, nichts. Also begab er sich, seine Übelkeit mit einer weiteren feuchten Zigarette bekämpfend, zurück in den Ort, um den Mann zu benachrichtigen, von dem er glaubte, dass der schon wissen würde, was jetzt getan werden müsste.

Als er weg war, stürzten sich die Möwen auf das, was von der Frau übrig war. Und plötzlich gab es auch Bewegung in einem der beiden Wachtürme...

 

3

Ein kleines Städtchen auf einer mit einem langen Damm verbundenen Ostsee-Insel. Im Sommer ”Seebad der Werktätigen”, im Spätherbst von Stürmen geplagt und ganz auf sich gestellt. Die ehemals vornehmen hellen Fassaden im verschnörkelten kolonialen Stil blättern ab, sie erinnern beredt aber von Jahr zu Jahr hinfälliger, wie gebeugte weißhaarige Damen bei Kaffee und Kuchen, an die guten alten Zeiten. Damals: Das war, als das Städtchen noch als vornehmstes Urlaubsdomizil der Reichen und Schönen aus der Hauptstadt galt, und man sich hier traf, um über die Strandpromenade zu flanieren, in windgeschützten Cafés zu sitzen, vor der 370 Meter langen Seebrücke abendlichen Kurkonzerten zu lauschen und die neueste Sommergarderobe auszuführen. Jetzt, in einem November viele Jahrzehnte später, fährt kalter Ostwind durch die Straßen, lässt die alten, windschiefen Häuser erbeben, reißt an den über die Straße gespannten Spruchbändern über die außerordentlichen Leistungen der Partei und den daraus resultierenden Verpflichtungen der geschätzten Arbeiter- und Bauernschaft.

Das Meer hinter den kieferbewachsenen Dünen des Städtchens tobt unsichtbar in der Dunkelheit und schickt feinste, salzgeschwängerte Tröpfchen über den Strand, die sich mit dem Nieselregen vermischen und sich wie eine dünne, fettige Schicht auf die klammen Gesichter legen.

Es ist eine kleine, feine Gruppe, die sich um die Leiche versammelt hat und auf sie herunter starrt, weil ihr Anblick schockierend und rätselhaft ist, aber auch, weil keiner der Anwesenden weiß, wo er sonst hinschauen soll; der Tod, stellt ABV Martin Beck wieder einmal fest, macht nämlich befangen, besonders wenn er so nackt und bloß auftritt wie hier, so ohne Scham und Takt, so herzlos und kalt. Martin unterdrückt den Impuls, seinen Mantel über den armen ramponierten Körper zu legen, um ihm auf diese Weise wenigstens einen Teil seiner Würde wieder zu geben, vorübergehend vergessen zu lassen, dass eine Leiche nur noch ein Ding ist, die keine Persönlichkeit mehr hat, keine Vergangenheit und keine Zukunft, auch wenn sich das Schuldbewusstsein darüber sowieso nicht abstellen lässt, wenn man ein Mensch mit Gefühlen und nicht nur ein Funktionär im Amt ist.

Jemand hustete und schnäuzte sich. Alle schwiegen.

ABV Martin Beck sah zu ABV Lars Janson herüber, der kurz vor seiner Suspendierung stand wegen wiederholter Ausfälligkeiten gegenüber Leuten, die das nicht vertrugen.

Sie waren zu neunt. Neben Beck und Janson zwei NVA-Soldaten aus einem der Wachtürme, die die Leiche entdeckt hatten, nachdem Mirko Jacek sie auf den Strand gezogen hatte. Plus deren Vorgesetzter, plus Stutthalter, der Leiter der VPKA in Bergen, plus Staatsanwalt Grau in einer fast bodenlangen dunklen Pelerine, wie der böse Zauberer aus einem Märchenbuch. Mirko Jacek hatten sie nach Hause geschickt und ihn angewiesen, sich rund um die Uhr zu ihrer Verfügung zu halten, als würde dem armen Kerl etwas anderes übrig bleiben, hatte Lars mit zusammengebissenen Zähnen gemurmelt, als gerade niemand hinhörte außer Martin, der ihm sofort einen Rippenstoß gegeben hatte, weil Lars wieder einmal in explosiver Stimmung war und es niemanden gab außer Martin, der auf ihn aufpasste.

Niemand konnte die Leiche identifizieren, so weit waren sie immerhin schon, eine Vermisstenmeldung gab es ebenfalls nicht, keine einzige, die auf diese tote Frau hier passte, nicht im gesamten Bezirk. Eine Pathologin von der Mordkommission aus Rostock kniete mit nassen Hosen vor der Toten, während ihr Kollege hinter ihr stand, die riesige Taschenlampe nach ihren scharfen Anweisungen führte und alle Anwesenden in der nassen Kälte schlotterten. Ein stehender Armee-Jeep mit eingeschalteten Scheinwerfern gab schlechtes Licht.

Eine halbe Stunde verging, in der weiterhin nicht viel gesprochen wurde. ”Sie ist seit zwei, eher drei Tagen im Wasser. Und sie hat eine Schusswunde”, sagte die Beamtin schließlich, stand leise stöhnend auf, nahm ihrem Kollegen die Taschenlampe aus der Hand und schaltete sie aus, ihr Gesicht faltig und erschöpft, Anfang Fünfzig, dickes, graues Haar, das sie ganz kurz trug, ein großer Mund, der aussah, als könnte er in den richtigen Situationen schön lächeln, aber nicht jetzt, nicht hier. ”Im Hinterkopf. Vorsatz. Keine Selbsttötung.” Sachliche, kühle Stimme. Martin machte kurz die Augen zu, Salz brannte hinter seinen Lidern, also machte er sie wieder auf, und wartete auf Graus Kommentar, denn so wie die Dinge lagen, würde wenigstens ihn diese Beurteilung freuen, und so war es auch, Grau ergriff sogleicht das Wort, begann mit ”Tja ich schätze, meine Herren – die Dame” – verbeugte sich dann ironisch in Richtung der Pathologin, die nicht reagierte, und sagte dann das, was ihm die ganze Zeit schon auf der Zunge gelegen hatte, nämlich ”da hätten wir doch wohl eindeutig einen Fall für Paragraf zwodreizehn”, woraufhin er seinen Blick auf Martin Beck und Lars Janson richtete. In der schlechten Beleuchtung wirkten seine Augen sehr dunkel, aber normalerweise waren sie von einem klaren, stechenden Hellblau, sogen sich wie Blutegel an Gesichtern fest, bis sie sich sämtliche Reserven an Kraft und Mut ihres Gegenübers einverleibt hatten; und so gehörte Grau zu den Vernehmern, die selbst die bockigsten Lügner in winselnde Geständige verwandelten, und die sich sicher nie die Frage stellten, ob dieses Talent für oder gegen ihren Charakter sprach.

”Wir stehen doch erst am Anfang”, sagte Martin. Er warf einen Blick auf Stutthalter, diese Pfeife, dachte er, der sich nie für seine Leute einsetzte und natürlich auch diesmal den Mund hielt, obwohl er im Fall des Falles doch selber genug Ärger bekommen würde, aber was hatte es schon für einen Sinn, sich aufzuregen, Stutthalter würde sich in diesem Leben nicht mehr ändern, Speichellecker blieb Speichellecker, und trotzdem stieg Zorn in Martin hoch, sträubten sich seine Haare gegen die Kapuze, schmerzte seine Kopfhaut in der Kälte, überlief ihn ein Schauer wie der erste Ausläufer einer Erkältung. Janson, bemerkte er aus den Augenwinkeln, war noch blasser geworden und er hatte sein Kinn vorgeschoben, wie ein Kind, das von seinen Eltern ausgeschimpft wird, und das war ein schlechtes Zeichen; Irgendwann wirst du um Gnade winseln, Grau, das dachte Lars wahrscheinlich gerade, das sagte er auch gerne manchmal, allerdings bisher noch nie in Graus Gegenwart, und um genau das zu verhindern, fuhr Martin rasch fort: ”Die Küstenwache hat keine Meldung erstattet und von den Wachtürmen aus ist nicht geschossen worden.”

”Das könnte Ihnen so passen”, sagte der Staatsanwalt. Jeder hasste Grau, der näher mit ihm zu tun bekam, weil er neben seinen unbestreitbaren Fähigkeiten intrigant, ungerecht und hämisch war. ”Was könnte mir so passen?” fragte Martin in scharfem Tonfall zurück, denn sie hatten in den letzten drei Jahren einen Fall von Republikflucht in ihrem Abschnitt gehabt und ein monatelanges Disziplinarverfahren war die Folge gewesen, bis man offiziell festgestellt hatte, was man sich inoffiziell hätte denken können, dass nämlich Beck und Janson nicht über dreitausend Menschen lückenlos überwachen konnten. Bei allem Einsatz nicht, das verstand sich von selbst, nur einige Leute in hohen Stellen wollten das durchaus nicht zur Kenntnis nehmen, und seitdem war Lars schwierig geworden, und hatte Martin eine Menge zu tun, um seine zunehmende Indisponiertheit aufzufangen.

”Was, außer Paragraf 213, könnte es denn sonst gewesen sein, Genosse?” erkundigte sich Grau, und legte den Kopf übertrieben schief. ”Da gibt es mehrere Möglichkeiten”, sagte Martin. ”Da bin ich aber gespannt.” Graus Stimme klang ganz weich und man wusste genau, ohne das Geringste daran ändern zu können, dass jetzt gleich ein Schuss unter die Gürtellinie abgefeuert werden würde, aber dann hörte man das Geräusch eines nahekommenden Autos, das das Tosen der Wellen übertönte, was die Anwesenden dazu veranlasste, erleichtert die Köpfe zu wenden und angestrengt zuzuhören, wie der Motor ungeschickt abgewürgt wurde. Die Pathologin schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete in die Richtung, in der sie das Auto vermutete. Zwei uniformierte Polizisten von der SSTD tauchten im Lichtstrahl auf, und rann-ten auf die Gruppe zu wie zwei Strichmännchen aus einem Trickfilm.

”Ich denke, wir werden gleich klarer sehen”, sagte Grau und stieß Martin an, als hätte er einen fantastischen Witz gemacht, und Martin bewegte sich einen Schritt weg von ihm, vorsorglich hin zu Janson, der sich hoffentlich wenigstens heute einmal nicht so benehmen würde, dass man ihn vor sich selbst schützen musste.

”...Holzboot”, keuchte der Erste. ”...Reste davon... Planken...” Er schwenkte eine gelbe Mütze. ”...lag daneben...”

”Interessant”, sagte Grau und nun war es ihm sichtlich unmöglich seinen Triumph noch weiter zu verbergen, denn ein zerschmettertes Holzboot, wahrscheinlich gestohlen wies mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit auf den Versuch hin, aus der Drei-Meilen-Zone herauszukommen weg von der Küste hin in internationale Gewässer, in der Hoffnung, von einem schwedischen Linienschiff nach Trelleborg aufgenommen zu werden, und das hieß im Klartext: Paragraf 213. Versuchte Republikflucht.

Bis auf die Sache mit der Küstenwache Dachte Martin, und sagte es dann auch. ”Wenn wir davon ausgehen, dass die Leiche zwei, drei Tage alt ist, ist es doch seltsam, dass sie sich bisher nicht gemeldet hat.”

Zum ersten Mal wirkte Grau leicht verunsichert. ”Das kommt noch”, sagte er, und dann, wie ein heimtückischer Köter, der sich knurrend an einem Hosenbein festbeißt, zu Lars und Martin, die Blicke immer hin und her wandern lassend: ”Wann hatten Sie beide eigentlich Ihren letzten Zwodreizehn? Gar nicht so lange her, was?”

”Sei ruhig, Lars”, sagte Martin, aber es war schon zu spät. Lars öffnete seinen Mund und heraus kam eine Äußerung, die ihn alles kostete, was er sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte, und dabei sah er aus – furchtsam, trotzig, triumphierend, verrückt wie ein Mann, der dabei ist, sich von einem Hochhaus herunterzustürzen, während die Menge unter ihm ”Tu’s nicht!” schreit.

”Tu’s nicht”, murmelte Martin, vergeblich wie üblich, denn es war ja schon passiert.

 

Garz, Zirkow, Binz, Granitz, Sellin. Gedanken, im Rhythmus der holpernden Straßen. Warum sie? Warum jetzt? Wem hatte die tote Frau im Weg gestanden und warum? Baabe, Göhren. Hinter Göhren die lange Straße direkt am Strand. Das Meer grau und aufgewühlt, obwohl es fast windstill ist. Anhalten, aussteigen, die kalte, feuchte Luft einatmen, sich durch den nassen Strandhafer zum Meer kämpfen. Das Gefühl von Weite, obwohl die Wolken so tief hängen, dass der Horizont im Nebel verschwimmt. Es nieselt immer noch, die Tröpfchen bilden winzige glitzernde Perlen auf dem steifen Uniformstoff, Möwen kreisen über Martin, schießen dicht neben seinem Kopf vorbei, stoßen hohe, empörte Schreie aus, als gehörte er nicht hierher, als sei das allein ihr Revier und er ein Eindringling und in gewisser Weise stimmt das ja auch.

Warum sie, warum jetzt, wem hatte sie im Weg gestanden und warum?...

 

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